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Die Mexikanerin Adryana Lozana übernimmt das Zepter in einer reinen Macho-Domäne. Gegen alle Voraussagen und trotz aller Hindernisse ist sie überaus erfolgreich. Eine Reportage über weiblichen Mut und Strategien in einem männlichen Umfeld.
Das erste Mal
Chihuahua 2010. Adriana Lozano erinnert sich gut an ihr berufliches erstes Mal. Sie macht den Motor aus, schaut kurz in den Rückspiegel, richtet ihr langes, schwarzes Haar, zupft den Ausschnitt der Bluse zurecht, legt beide Hände aufs Lenkrad und hält kurz inne. Atmen, sagt sie sich, ruhig und tief atmen. Versucht den Rhythmus ihres Herzschlages auf normale Geschwindigkeit herunter zu regeln, das innere Zittern zu kontrollieren. Sie hat die lange staubige Fahrt über Schotterstraßen und Pisten des nordmexikanischen Hochlandes gemacht, um mit den vaqueros, den mexikanischen Cowboys, über Milchpreise und Absatzmengen zu verhandeln. Sie macht das zum ersten Mal. Sie fürchtet über den Tisch gezogen zu werden weil sie zu wenig Erfahrung hat. Aber noch größer ist die Angst, nicht ernst genommen zu werden. Als Frau.
Durch die geschlossene Scheibe dringen Gesprächsfetzen und Lachen der Männer. Etwa 30 Cowboys und Farmer haben sich auf der kleinen Ranch in der Nähe von Chihuahua versammelt. Chihuahua, das ist Nahuatl, die Sprache der Vorfahren und heißt: trockenes, sandiges Land. Die Männer sind so rau wie das Land, das sie ernährt. Sie alle tragen, was in diesem nördlichsten mexikanischen Bundesland üblich ist: Cowboyhut, Stiefel aus Schlangen- oder Krokodilsleder, Machete, Messer und Gerte, tiefe Falten in sonnengegerbten Gesichtern und Skepsis gegenüber allem was sie nicht kennen. Die sogenannte Vaquero-Kultur (Rinder-Kultur), hier ist sie zu Hause. Die Männer aus Chihuahua gelten als harte Kerle, zäh, stur und unverwüstlich. Sie beten Frauen an oder schauen auf sie herab. Sie pfeifen ihnen hinterher oder prügeln sie. In ihrer Welt gehören Frauen in die Küche oder auf die Tanzfläche. Aber nicht an den Verhandlungstisch. Machos per excellence.

Adriana zögert kurz. Es wäre so leicht den Motor wieder zu starten und einfach abzudrehen. Aber kneifen ist keine Option. Der Familienbetrieb, ein Milchhandel, Leche Viva, steht kurz vor der Pleite. Der Vater hatte kürzlich einen Schlaganfall, der älteste Bruder hat sich das Leben genommen. Bleibt nur noch sie, die älteste Tochter Adriana, die den Karren aus dem Dreck ziehen und das Familienunternehmen retten soll. Daran hängt nicht nur das gesamte Familieneinkommen sondern auch das ihrer Mitarbeiter und der rund 400 Milchbauern, die den Betrieb beliefern.
Sie öffnet die Wagentür und setzt einen Fuß hinaus. Keine High Heels. Kniehohe Stiefel über engen Jeans. Trotzdem wird es plötzlich mucksmäuschenstill. Alle starren sie an. „Als ob ihnen ein Geist erschienen sei“ wird Adry später sagen. Dabei hatte sie sich angekündigt. Name und Stimme verraten ihr Geschlecht. Aber eine Frau gehört nach Ansicht der Vaqueros nun mal nicht hierher. Bestenfalls in den Stall. Zum melken.
Die Herausforderung
Veracruz 2015. Adriana nimmt als Delegierte der Vereinigung der Milcherzeuger an der Jahrestagung der Viehzuchtverbände teil. Das Staatsoberhaupt Pena Nieto, die Gouverneure von Chihuahua und Veracruz und zahlreiche andere Personen des öffentlichen Lebens sind anwesend. Es dauert 15 Minuten bis sie alle namentlich begrüßt sind. Diesmal sieht man mehr weiße Hemden und weniger Cowboyhüte. Von 2000 Delegierten sind 2 Frauen, eine davon ist Adriana. Sie checkt ein und bekommt ein Mappe mit Unterlagen. Sie ist rosa. Adriana schaut sich um und bemerkt, dass die anderen (Männer) graue Mappen haben. Sie will auch eine graue Mappe. „Nein, nein“, sagt die Dame am Empfang,
„Die rosa Mappen sind für Frauen. Sie sind doch eine Frau?“
Adriana schaut in die Zeitpläne, stellt fest, dass sie einen anderen hat als ihr Kollege. Bei ihr: Termine für Besichtigungen und Kaffeekränzchen. Bei ihm: Vorträge und Arbeitsgruppen. Es stellt sich heraus: die rosa Mappen sind für die weiblichen Begleitpersonen. Noch einmal besteht sie auf einer grauen Mappe. Sie sei eine Delegierte und nehme am Kongress teil. Die Empfangsdame beharrt darauf: rosa für Frauen. Adriana muss einen Verantwortlichen herbei rufen damit sie ihre Unterlagen erhält.
Die Revolte
Chihuahua 2018. Rodolfo Vallecillos, weisser Schnauzbart, offenes Hemd, 66 Jahre alt, sitzt vor einem riesigen Kartoffelberg. Das Messer des 66 jähriger Ranchers hat noch nie eine Küche gesehen und doch schält es jetzt unermüdlich für rund 100 Mitstreiter, die seit einer Woche die Schienen von Delicias blockieren. Es ist heiss, ein trockener Wind dörrt die Kehlen aus. Aus einem Radio dringen Nachrichten. Männer mit Cowboyhüten sitzen zusammen, auf einer Mauer, auf Klappstühlen und Heuballen. Seit einer Woche blockieren sie die Gleise. Es ist die wichtigste Nord-Süd-Bahnverbindung Mexikos. Normalerweise donnern hier täglich Züge der Ferromex Richtung El Paso und weiter nach Nordamerika. Metalle, Erze, Weizen, Mais, Industriegüter: Millionen von Tonnen werden über diese Strecke transportiert. Nun sitzen Männer mit Cowboyhüten auf den Schienen und essen Eintopf. Die Züge stehen Kilometerlang aneinandergereiht wie Perlen auf einer Kette etwas außerhalb des Ortes. Am Bahnübergang blockiert ein Lastwagen sowie ein Traktor die Strecke. Ein Transparent klagt an: el Gobierno mata al sector lechero, die Regierung vernichtet den Milchsektor!
Mitten drin, aber nicht am Kochtopf, Adriana. Unermüdlich beantwortet sie die Fragen der Companeros und die der Journalisten. Adriana ist Wortführerin. Aber nicht nur das. Sie ist geschäftsführende Direktorin der „Desarrollo social Lechero“, einer Vereinigung von 300 Milchproduzenten und sie ist Abgeordnete ihres Bundeslandes bei der Union de Productores de Leche del Estado (Verband der Milcherzeuger). Hört man sich unter den Vaqueros um, fallen nichts als lobende und anerkennende Worte über Adriana. Rodolfo, der Kartoffelschäler, kennt sie nun seit 8 Jahren.
„Sie ist eine sehr schöne Frau“ sagt er. Nach einer kleinen Pause fügt er schnell hinzu „aber auch sehr intelligent“. Als sei das ein Widerspruch. „Am Anfang hatte sie es schwer als Frau. Der Machismo ist schon sehr heftig hier im Norden. Aber sie hat sich den Respekt aller verdient. Sie ist die geborene Leaderin und hilft uns, unsere Rechte durchzusetzen.“
Seit Monaten schwelt der Streit. Die Regierung drückt die Preise, um so Wählerstimmen gewinnen; Seit fünf Jahren ist der Milchpreis bei 6,3 Pesos eingefroren. Die Bauern argumentieren, dass in dieser Zeit ihre Kosten um rund 70 Prozent gestiegen seien. Wie solle man da überleben? Immer mehr von ihnen müssten ihre Herden verkleinern, Vieh verkaufen, um überhaupt über die Runden zu kommen. Mittelfristig würden alle Kleinbauern zugrunde gehen. Doch die Regierung ist stur geblieben.
Also haben sich die Bauern, nach langer Diskussion, zu einem radikalen Schritt entschieden: die Blockade der Gleise. Alles oder nichts. Geführt werden sie von Adriana, ihrer Leaderin.

„Companeros, einen Krieg gewinnt man nicht mit einer Schlacht“ ruft Adriana ins Mikrofon, „sondern mit vielen Schlachten und einer Strategie“.
Gemeint ist hier die Auseinandersetzung der Milchproduzenten mit den Bundesbehörden und der LICONSA, in Mexico-City. Liconsa ist ein staatliches Unternehmen, das die Milch industrialisiert und zu subventionierten Preisen an die Bedürftigen weiter gibt. Und damit wird die Milch zum Politikum.
Liconsa hat ein Interesse daran, wenig für die Milch zu zahlen. Global-Player wie Nestle oder Danone orientieren sich an eben den Einkaufspreisen, die Liconsa den Milchproduzenten zahlt. Und der liegt seit 5 Jahren fast unverändert bei rund 6,3 Pesos. Im gleichen Zeitraum sind die Lebenshaltungskosten aber um rund 70% gestiegen, sagt Rodolfo, der diese Woche schon wieder ein Tier seiner Herde verkaufen musste, weil das Einkommen nicht reicht. Nun hat er noch 79 Rinder. „Wir sind kleine und mittlere Produzenten und werden früher oder später alle verschwinden wenn wir nicht mehr Geld für unsere Milch bekommen.“
Es geht also um nicht weniger als diesen Existenzkampf der Milchproduzenten wenn Adriana von Krieg und Schlachten spricht. Aber der Satz „einen Krieg gewinnt man mit vielen Schlachten und einer guten Strategie“ könnte ebenso gut für Adrianas Erfolg, vielleicht für ihr ganzes Leben stehen.
Um das zu verstehen müssen wir ein wenig zurück schauen.
Die Kindheit
Chihuahua 1977. Adry liegt als kleines Bündel in den Armen der Tante, die es herzt und wiegt. Vielleicht glaubt es, das sei seine Mutter. Zumindest wird es später immer sagen, die Tante sei ihre zweite Mutter. Die erste, die leibliche ist mit der Geburt in eine Depression verfallen aus der sie, abgesehen von kurzen Unterbrechungen, bis heute nicht heraus kommen wird. Maria Elena, Vollwaise, aufgewachsen bei den Großeltern in bescheidenen Verhältnissen, will das Kind nicht sehen. Und der Vater? Hat sich verdrückt. Adry wächst zunächst bei den Urgroßeltern auf, in Delicias, am Rande einer Kleinstadt, wo die Kinder damals noch draußen spielen und toben dürfen, wo die Erwachsenen im Schatten zusammen sitzen und Limonade trinken. Es sind die glücklichen Jahre ihrer Kindheit.
Dann lernt die Mutter einen Mann kennen, wird schwanger, heiratet ihn und holt Adriana zu sich. Julio Lozano ist Spanier. Ein schöner, kluger, stolzer Mann. Aber auch ein Besserwisser, aufbrausend und impulsiv. Ein Konquistador. Adriana’s Mutter liegt ihm zu Füßen. Die Tochter sagt Papa zu ihm. Adriana ist 6 Jahre alt als der Bruder Felipe geboren wird. Danach folgen im Abstand von jeweils einem Jahr 2 weitere Geschwister: Julio und Gabi. Adriana wird, was man in Mexico „hija parental“ nennt. Es ist dasjenige Kind (meist das älteste Mädchen) was Teile der elterlichen Verantwortung und Pflichten übernimmt. Die Mutter überträgt Adriana mehr davon als ein Kind tragen kann.
„Ich musste für alle kochen und dürfte erst als Letzte essen. Der Vater durfte zuerst essen. Manchmal war dann nichts mehr übrig und das kochen ging von vorne los.“
Die kleinen Geschwister sind problematisch. Der eine bewegt sich kaum, die andere weint dauernd. Adriana ist in einem Dauerzustand der Überforderung. Und Angst. Wenn der Vater von der Arbeit kommt ist er oft schlecht gelaunt, die Mutter völlig abhängig von seinen Stimmungen und damit beschäftigt ihm zu gefallen. „Eigentlich erinnere ich die Abende und Wochenende nur mit 2 Extremen: entweder beide Eltern waren euphorisch und mit Liebesspielen beschäftigt oder sie stritten und schlugen sich.“ Beides hört das Kind aus dem Nebenzimmer, stets bemüht, die Geschwister ruhig zu halten damit der Vater nicht aufbraust. Schlimm geschlagen habe er manchmal, sagt Adriana. Ein paar Jahre arbeitet die Mutter mit in der Firma des Ehemannes. Wenn die Eltern nach Hause kommen musste alles fertig und blitzblank sein: geputzt, gekocht, die Kinder gebadet, die Hausaufgaben erledigt. Um sich bei den Geschwistern durchzusetzen greift Adriana auch manchmal zu Mitteln, die der Vater anwendet: sie setzt sich mit körperlicher Gewalt durch.
„Ich packte mir zum Beispiel eins der Geschwister und zwang es in die Dusche. Zur Not auch mit einer Ohrfeige. Ich war selbst noch ein Kind und hatte es nicht anders gelernt. Und dann war da die Angst: wenn ich nicht dafür sorge, dass es sauber ist, wird der Vater sie schlagen. Und der schlägt brutaler.“
Adriana hat Schuldgefühle wenn sie die Geschwister schlägt. Und sie hat die gleichen Gefühle wenn der Vater die Kleinen schlägt. Sie fühlt sich in jedem Fall verantwortlich. Später werfen die Geschwister ihr vor, sie sei hart gewesen.
Fragt man den alten Vater heute wie Adriana als Kind war räumt er ein: „Ich weiß es nicht. Sie war gehorsam und fleißig. Ich habe eigentlich nicht viel von ihr mitbekommen. Ich war ein Mann der Arbeit.“ Denkt kurz nach, seufzt und fügt hinzu „Ein Mann, der den Kindern nicht genug Aufmerksamkeit entgegengebracht hat. Sie hätten mich mehr gebraucht.“ Das sieht er heute so. Damals nicht.

Damals ignoriert er seine Tochter und zieht die anderen Kinder, die leiblichen, spürbar vor. Egal wie sehr Adriana sich anstrengt, die gewünschte Aufmerksamkeit bleibt ihr vorenthalten. Nur die Tante, die sie damals in den ersten Monaten so liebevoll gepflegt hat, steht ihr zur Seite, spendet Trost und Rat. Manchmal, erzählt die Tante, sei sie gekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Einmal habe sie Adriana auf der Toilette entdeckt. Sie habe sich dort eingesperrt, um in Ruhe Hausaufgaben zu machen. Vor der Kloschüssel habe sie gekniet und den Toilettendeckel als Schreibtisch benutzt.
Mitunter protestiert Adriana zu Hause, will sich Freiräume erkämpfen, will raus gehen und mit den Freundinnen spielen. Dann sagt die Mutter: „du musst dir erst verdienen was du hier isst.“ Oder manipuliert. „Du willst spielen. Ja geh nur. Dann wäscht deine kranke Mutter eben die Wäsche. Dann geht es ihr eben schlechter. Hauptsache dir geht es gut.“
Heute sagt Adriana sie beherrsche die Kunst der Manipulation, habe es von der Pike auf gelernt. Deshalb sei sie Leaderin geworden.
„Sogar ein Baby manipuliert dich. Dann die Mutter, die Religion, die Politik. Aber es gibt gefährliche, toxische Manipulation. Das ist wenn ein Mensch andere durch Lügen, Schuldgefühle und Opferrolle manipuliert und das alles zum eigenen Wohlergehen. Ein Anführer manipuliert auch, aber mit Fakten. Er versucht zu vereinigen statt zu spalten und tut es zum Wohl anderer.“
Eine Rüstung für Frauen
Delicias 2018. Während der Kaffee blubbert macht Adriana sich für den Tag bereit. Das moderne Haus, in dem sie allein Zeit wohnt hat sie selbst entworfen. Sie ist stolz darauf. Große, lichte Räume, helle, fröhliche Einrichtung. In ihrem begehbaren Kleiderschrank trifft sie eine Auswahl für heute: gemusterte Seidenbluse mit tiefem Ausschnitt, eine Cardigan-Jacke, enge Jeans, darüber kniehohe Lederstiefel mit Damenabsatz. Sie schminkt sich, Make Up, Wimpern, Lidstrich, Lippen. „Das ist Teil meiner Rüstung“, sagt sie. „So wie der Torrero sich vor dem Kampf verkleidet.“ Lacht. Wählt unter 8 Paar Langstiefeln das Paar für heute aus.

Eine Rüstung, die können Mexikanerinnen gut gebrauchen. Besser noch: eine kugelsichere Weste. Seit 2006 sind im ganzen Land fast 9000 Frauen verschwunden. Viele tauchten später als Leichen auf, erschossen, erstochen, verstümmelt, entsorgt auf Müllkippen. Andere fand man nie. Sie mussten sterben, weil sie ihren Mann verlassen wollten, weil sie zu irgendwem «nein» sagten, weil sie vergewaltigt wurden und der Täter alle Spuren tilgen wollte. Seit 2011 steht «Feminizid», der Mord an Frauen, explizit als Straftat im Gesetzbuch.
Eine aktuelle Umfrage des Nationalen Instituts für Statistik und Geografie ergab, dass zwei Drittel der Mexikanerinnen mindestens einmal Opfer männlicher Gewalt wurden; gerade der nördliche Bundesstaat Chihuahua, die Heimat Lozanas, ist betroffen. Jede dritte Mexikanerin beklagt, an ihrem Arbeitsplatz schon einmal von Kollegen oder Vorgesetzen belästigt, diskriminiert, gedemütigt worden zu sein.
Bis heute ist es gang und gäbe, dass sich mexikanische Männer aus dem Staub machen, kaum haben sie eine Frau geschwängert. Heerscharen von Alleinerziehenden kämpfen in Mexiko um das Überleben ihrer Kinder. Die Chance, einen getürmten Ehemann finanziell zur Verantwortung zu ziehen, geht gegen Null. Denn eine polizeiliche Meldepflicht gibt es nicht.
Männer und Frauen sind in Mexiko gleich, so steht es in Artikel 1 der Verfassung. Doch der Gedanke, dass Frauen weniger wert sind als Männer, hat sich tief in die Kultur des Landes eingegraben. Und in die Sprache. Wenn Mexikaner etwas grossartig finden, nennen sie es «muy padre» oder «padrissimo» – also «extrem Vater». Andersherum heisst es: «eso vale madre», wörtlich: dies ist eine Mutter wert, im Sinne von nichts wert. Oder auch: «me importa madre». Das geht mich einen Scheiss an.
Die weibliche Übernahme
Delicias 2010. Als Adriana die Geschäftsführung des Familienunternehmens „Leche Viva GmbH“ übernimmt kommt Widerstand auf. Einige Mitarbeiter sagten es rundheraus: „wir möchten nicht mit einer Frau arbeiten.“
Der Buchhalter ist so einer. Adriana ist auf ihn angewiesen. Er soll ihr die Abläufe erklären. Er hält Unterlagen zurück, macht aus einfachen Abläufen hochkomplexe Geheimnisse und abfällige Bemerkungen wenn Adriana nachfragt.
„Anfangs dachte ich, ich sei tatsächlich zu dumm, es zu verstehen. Erst später, als ich eingearbeitet war habe ich begriffen: er hat es absichtlich kompliziert gemacht.“
Auch ein Mitarbeiter der Bank verweigert sich. Frauen seien problematisch behauptet er. Wann immer es etwas zu klären gibt verlangt er den Vater zu sprechen. Adriana wechselt die Bank. Problem erledigt. Eigentlich soll Adriana den maroden Betrieb nur noch abwickeln. Er schreibt längst rote Zahlen. Aber sie führt ein Controlling ein, handelt Verträge neu aus, wirbt große Kunden an und wirft ihren alten Buchhalter raus. Das Unternehmen erholt sich. Adriana baut ein Netzwerk an Kontakten auf: darunter Politiker, Cowboys, Gewerkschafter, Verbandsmitglieder.
Frauen sind anders und verhandeln anders, sagt Adriana. Sie haben den sechsten Sinn. Sie habe einmal die Gelegenheit gehabt ihren ärgsten Feind und Konkurrenten mit Hilfe der anderen Wettbewerber zu Fall zu bringen. Aber sie habe sich dem Komplott verweigert. Heute sei ihr ehemaliger Feind ein Freund, treuer Kunde und Verbündeter.
„Männer gehen mehr auf Krafteinsatz und Kampf. Wolle ihre Kräfte messen. Wollen gewinnen. Wir Frauen sind stark in Kommunikation, Sensibilisierung, im Dialog und der Union.“
Adriana will nicht gewinnen. Wenn immer es einen Konflikt gibt, will sie, dass beide Seiten zufrieden daraus hervor gehen. Win-Win also. Wenn es nicht so läuft wie sie es sich wünscht, glaubt sie an einen „großen Plan“ bei dem alles seinen Sinn hat. Das gibt ihr Zuversicht.
Eine Strategie, die sie immer voran gebracht hat ist diese Offenheit, mit der sie Anderen begegnet. „Ich versuche einfach ich selbst zu sein, ehrlich zu sein.“ Das mache einerseits verletzlich, andererseits aber glaubwürdiger. Authentizität und Transparenz bewirke, dass auch ihr Gegenüber sich öffne. Es schaffe Vertrauen und Sicherheit und das sind immer noch die besten Grundlagen für Verhandlungen.
Weiblich, modern, erfolgreich
Delicias 2018. Fragt man die männlichen Mitarbeiter heute, wie es ist, eine Frau als Chefin zu haben, winden sie sich in Phrasen. Ihre Angst, eine politisch unkorrekte Antwort zu geben ist so groß, dass sie sogar einen Gender-Unterschied im Führungsstil verneinen. Es sei egal ob eine Frau oder ein Mann das Unternehmen leite. Schließlich gebe es den Grundsatz der Gleichberechtigung in Mexico. Alle seien gleich, weibliche Chefs, das Normalste der Welt Soweit die Männerwelt. Die weiblichen Mitarbeiter sehen das anders.
Eunice Rachel Perez ist seit 2013 in der Firma. Anders als ihr Vorgänger interessiere sich Adriana für die sozialen Umstände ihrer Mitarbeiter und versuche zu helfen wo sie könne. Adriana übertrage den Mitarbeitern mehr Verantwortung. Motivation und Zusammengehörigkeitsgefühl im Betrieb habe stark zugenommen. Es sei ein ganz und gar anderer Führungsstil als unter dem autoritären Vater. Adriana setze klare Regeln und bestehe strikt auf deren Einhaltung. Eine weibliche Attitude, fügt sie hinzu. Das höre ich nicht zum ersten Mal. Weiblich? Wieso denn das?
„In Mexico sind wir Frauen für das Überleben der Familie zuständig. Der Mann mag das Geld allein verdienen aber wir Frauen ‚strecken’ es, damit es bis zum Monatsende reicht. Das Verantwortungsgefühl der Frauen ist viel ausgeprägter als das der Männer. Während die Männer am Freitag abend mit den Freund in die Kneipe gehen und das Geld auf den Kopf hauen, kaufen wir einen Vorrat an Mais und Gemüse und eilen nach Hause.“
Ein Rückzug ist keine Niederlage
Chihuahua, März 2018. Es ist Freitag, der Wochentag, an dem die Abrechnungen in der Firma gemacht werden müssen. Adriana wird dort dringend gebraucht. Aber zuerst muss sie schnell noch mal zur Blockade an den Bahnlinien. Die Männer motivieren, unterstützen, Einsatzpläne machen. Die Blockade geht in die 2. Woche. Adriana fährt mit dem Wagen an der Bahnlinie entlang. Wagon um Wagon, Zug um Zug stehen dort in Warteposition. Sie stößt einen Zischlaut aus „was das wohl kostet? Ich will es gar nicht wissen“. Hat sie keine Angst, dass das Militär eingreift, Trucker und Traktor beiseite räumen, die illegale Besetzung auflöst? Nein. Hat sie nicht. Adriane hat keine Angst. Milch ist für die mexikanische Regierung ein Politikum und es ist eine soziale Frage. Sie würden es nicht wagen derart hart durchzugreifen. Schon gar nicht im Wahljahr. Das Telefon klingelt. Adriana geht dran. Heute sollen in Mexico Stadt Entscheidungen fallen. Was sie sich von der Blockade erhoffe, will der Reporter wissen. Ob sie schon on air sei, fragt Adriana ganz professionell. Ja, gesteht der Reporter. Adriana zwinkert mir zu und flüstert, „er wollte es verschweigen“. Sie ist eine großartige Rednerin. Aus dem Stehgreif erklärt sie die komplexen Zusammenhänge der Milchpolitik, warum es hier nicht darum gehe mehr Geld zu erpressen sondern ein soziales Problem zu lösen, was geschehe wenn die kleinen und mittleren Milchproduzenten vom Markt verschwinden und was die Milchpreise mit dem Wahlkampf zu tun haben.
Später im Camp gibt es Neuigkeiten. Die Regierung habe zugesagt den Milchpreis zu erhöhen, erbitte aber 48 Stunden, um über die Höhe zu beraten. In der Zeit solle die Eisenbahnstrecke frei gegeben werden. Auf keinen Fall! Rufen die Gauchos und recken die Fäuste. Adriana ergreift das Mikrofon. Sagt den Satz vom Krieg, den man nicht in einer Schlacht gewinnen kann. Schlägt vor, übers Wochenende zu räumen. Damit alle neue Kräfte tanken und sich reorganisieren können. Wenn die Regierung ihr Versprechen nicht halte, könne man am Montag die Geschütze wieder auffahren. Aber nein, die Männer lassen sich nicht überzeugen. Plädieren laut für Weitermachen. Adriana sagt:
„Das ist der Unterschied! Für Männer ist ein Rückzug eine Niederlage. Es geht um Siegen oder sterben. Schwarz oder weiß. Ich sehe das anders. Die Ziele sind wichtig, aber auch der Weg zum Ziel: lernen, sich entwickeln, leben eben. Und es geht eben nicht alles im Hauruck-Verfahren.“
Es kommt zur Abstimmung. Die meisten sind dafür, die Blockade aufrecht zu erhalten. Adriana ist zwar dagegen, wird die Gruppe aber weiterhin unterstützen. Gelebte Demokratie.

Am nächsten Tag, es ist Samstag, kommt die Familie zu Besuch. Der jüngere Bruder, Pancho, tätowiert, ist eben aus der Reha entlassen worden. Die Schwester ist da, mit ihrem taubstummen Kind und Mann, der Vater, alt aber immer noch schön, die Mutter versunken in ihren trüben Gedanken. Adriana ist der Fels in der Familienbrandung, unterhält die Eltern und unterstützt die Geschwister finanziell. Manchmal fragt sie sich, ob sie all die Anstrengung unternommen hat um die Anerkennung des Vaters zu bekommen. Vielleicht.

„Ein Teil von mir fühlt sich immer noch für alle verantwortlich. Welcher Teil ist freie Entscheidung und welcher Manipulation? Ich habe mich mit meiner Geschichte versöhnt. Wenn du soviel Mist erlebst gibt es zwei Möglichkeiten: entweder du stürzt ab oder du wächst daran.“
Die Angst und den Schmerz im Leben könne man nicht verhindern, aber den Umgang damit. Deshalb will Adriana irgendwann das Milchgeschäft hinter sich lassen und eine Schule errichten, in der Menschen lernen, ihren Schmerz wahr zu nehmen, zu verarbeiten und zu transformieren. Eine Resilienz-Schule. Von Frauen für Frauen.
Text und Fotos: Gitti Müller