T’aqi Chuymampi

Von ganzem Herzen

Für Lucio

Nach einer wahren Geschichte aus Bolivien

Lesezeit: 7 Minuten

Der steinige Weg wollte kein Ende nehmen. Lucio trottete hinter seinem Esel her, der mit gleichmütigen Schritten den abschüssigen und unwegsamen Pfad hinab stakste. Es war bitterkalt. Der Junge zog seine bunte Mütze ein wenig tiefer in die Stirn und rieb die Hände gegeneinander. Er rutschte über eine gefrorene Pfütze. In seine Füßen hatte er kaum mehr Gefühl. Sie steckten strumpflos in Sandalen aus Autoreifen. Er war früh morgens aufgebrochen und hatte sein Dorf Viloco bei Sonnenaufgang hinter sich gelassen. Aus der Ferne hörte er noch das vertraute „toc-toc, toc-toc“ der Maschinen. Sein Geburtsort, die Minenarbeiterstadt Viloco lag  5200 Meter über dem Meeresspiegel in den Anden nördlich von La Paz.

Sein Vater war bei einem Arbeitsunfall in der Zinnmiene verstorben als er, der älteste Sohn, gerade drei Jahre alt war. Sie hatten auf den Vater gewartet mit dem Essen. Eine Quinuasuppe brodelte schon seit Stunden auf dem Feuer und die Mutter schimpfte weil der Vater nicht kam. Er war nicht so einer, der abends mit seinen Kumpeln saufen ging und anschließend nach Hause kam und entweder weinte oder bei jeder Kleinigkeit wütend wurde. Nein, so einer war er nicht. Er war ein guter Mann, schweigsam, tüchtig und aufrichtig, aus einem kleinen Hochlanddorf, Arumthaya.  Deshalb wartete die Mutter zunächst geduldig. „Er wird gleich kommen“ sagte sie den Kindern. Aber dann wurde sie unruhig. Etwas stimmte nicht. Und wie um diese aufkeimende Sorge zu übertönen schimpfte sie. Über die Suppe, die langsam verkochte,  die Kälte, die ihr in den  Knochen saß und über den Säugling, der ständig nach ihrer Brust verlangte. Dann kam der„Ingeniero“ . Jeder, der nicht unter Tage oder an den großen Maschinen arbeitete wurde in Viloco „Ingeniero“ genannt, auch wenn er nur ein Botengänger oder Fahrer war. Der Ingeniero sagte, dass es ihm leid täte, klopfte der Mutter tröstend auf die Schulter und zog seinen mitgebrachten Schnaps aus der Tasche. Die Mutter schlug abwechselnd die Hände vor’s Gesicht und zum Himmel, „Ay tata“ rief sie weinend, „ay tata, que haré, was soll ich nur tun“ und schenkte nun endlich die Suppe aus. Die Kinder, 5 und 3, versteckten verstört ihre Gesichter im Dampf der  Schüsseln und schlürften lautstark ihr Essen. Das Baby im Tragetuch wippte im Schluchzen der mütterlichen Brust auf und ab. Der Lastwagen sei auf den Serpentinen  ins Rutschen geraten und hinab gestürzt. Er sollte die hungrigen und müden Minenarbeiter, die  hinten auf der Ladefläche saßen, von der „Pata Mina“ – dem Ein-und Ausgang zu den Schächten- nach Hause in Dorf bringen.

Ach! nicht das erste Mal. Der lose Schiefer. Die einen sterben unter Tage, die anderen auf den unbefestigten Zufahrtswegen. Und wieder andere an ihrer Staublunge. Das Sterben war allgegenwärtig in Viloco.

Fragte man Lucio später nach seinem Vater so konnte er sich nur an dessen Abwesenheit erinnern, an jenem Abend, als sie mit dem Essen auf ihn warteten. Ansonsten wuchs er schnell in die Rolle des „Ältesten“ hinein, weil er der Junge war und seine ältere Schwester eben nur das Mädchen.

Jetzt war er 7 Jahre alt und mit seinem Esel auf dem Weg nach Uma Ruta, einem Dorf etwa 1000 Höhenmeter tiefer gelegen als Viloco. Dort sollte er bei der Tante Kartoffeln aus eigenen Ernte abholen. Aber fast noch wichtiger war Lucio eine andere Mission: seine Mutter hatte heute Geburtstag und er wollte ihr Blumen pflücken. Die wuchsen oben in seinem Dorf nicht. Dort gab es nur Schiefer, Steine und das Toc-Toc der Maschinen.

Langsam wurde es still. Noch befand er sich oberhalb der Wolken. Wie Watte türmten sie sich weiter unten auf. Das Kind hatte noch nie Watte gesehen. Aber die Lehrerin hatte gesagt, die Wolken seien wie Watte. Eigentlich müsste es heißen: Watte ist wie Wolken, dachte Lucio. Darüber der stahlblaue Himmel. Lucio blies vergnügt kleine Kälte-Wölkchen in die Luft und liess Steine auf gefrorenen Pfützen schliddern. Das war der schönste Abschnitt seines Weges. Es war still, der Himmel blau und die weite Sicht öffnete sein Herz. Gleich würde er in die Wolken abtauchen. Dann musste er aufpassen Sisko, seinen Esel, nicht aus den Augen zu verlieren.

Gegen 10, nach etwa 4 Stunden Marsch klopfte Lucio in Uma Ruta an die Tür seiner Tante. Ach so spät, schimpfte sie ihren Neffen. Musste sie doch längst auf dem Feld sein und dem Onkel helfen. Aber dann lachte sie, schenkte dem Jungen einen Teller Gerstensuppe ein und fragte nach der Mutter. Ja, ja, sagte Lucio, walikiskiwa, es geht gut. Ein Aymara klagt nicht, das hatte er von klein auf gelernt. Was sollte er der Tante erzählen? Die Mutter arbeitete über Tage und klopfte Steine von früh bis spät, immer ein Kleinkind im Tragetuch und ein anderes an der Brust. Inzwischen hatte sie 5 und einen nichtsnutzigen Mann, der gerne trank und lamentierte. Seine Arbeit hatte er verloren weil er zu oft fehlte nach einer durchzechten Nacht. Nun saß er tagein tagaus in der kleinen Behausung und schimpfte auf die Minengesellschaft, die ihn entlassen hatte. An guten Tagen nahm er sein Charango und zeigte Lucio wie man darauf spielte. Dann war er ganz der einfühlsame Stiefvater, mal fordernd, mal lobend. Ein richtiger Vater, den er sich so sehr wünschte. Manchmal warf der Stiefvater ihn überschwenglich in die Luft, lachte und sagte: „du wirst mal ein großer Künstler“.  An schlechten Tagen brüllte er bei jeder Kleinigkeit, setzte hier eine Ohrfeige und dort eine Tracht Prügel mit der Kimsa Charani, der kleinen Lederpeitsche, die stets drohend und griffbereit an der Wand hing. Die Kinder waren verstört, wußten sie doch nie was als nächstes passierte. In einem Moment gab sich der Stiefvater herzlich und liebevoll und im nächsten glich er einem wütenden Bären, der sein stinkendes Maul aufriss und seine Pranken gegen die Kinder erhob, mit seinem Groll jede Herzensregung nieder machte. Aber noch schlimmer traf es die Kinder wenn sich der Stiefvater auf die Mutter stürzte und auf sie einprügelte, sie mit dem Kopf auf die Tischplatte stieß oder sie zu Boden warf, fluchte und so lange damit drohte, sie umzubringen bis sie ihm das bisschen Geld gab, das sie durch den Verkauf des Silbersstaubs erwirtschaftet hatte. Dann gab er endlich Ruhe, schlug die Tür lautstark zu und stampfte zur Kantina, um sich mit billigem Fusel zu beruhigen. Die Kinder scharrten sich dann um die weinende Mutter, streichelten sie, drückten sie mit ihren kleinen Ärmchen und Nancy die älteste Tochter setzte fürsorglich Wasser für einen Cocatee auf.

‚Blumen für Mamita’ erinnerte Lucio sich und ließ seinen Blick umher schweifen. Während die Tante zwei Kartoffelsäcke auf dem Rücken des Esels befestigte tänzelte er ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Hinter dem Lehmhaus am Rande des Gemüsegarten hatte die Tante 3 Margariten. Ob er die pflücken durfte? „Wozu denn das?“ wollte sie wissen. Ob er  seine Verlobte beglücken wolle scherzte sie und ob er nicht vorher den Rotz von der Nase wischen wolle. Lachte und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. Verlegen wischte der Junge mit dem Ärmel seines Pullovers über die Nase. Die Mamita habe heute ihren Tag und deshalb wolle er ihr eine Freude mit Blumen machen. „Ja lauf“, lachte die Tante, „pflück die Margariten, nimm sie nur mit! Aber wehe du schenkst sie doch deiner Liebsten“, zwinkerte sie ihm zu.

Aber nein, versicherte Lucio und hielt triumphierend das kleine Sträußchen in die Höhe. Er verabschiedete sich von der Tante. Sie schlug gekochte Pellkartoffeln und ein Stück Käse in einen gewebten Tari ein und packte den Proviant in ein Bündel, das sich der Junge um die Schulter band. „Jikisinkama, wir sehen uns wieder“ riefen beide und winkten sich ein letztes Mal zu, bevor der Pfad sich hinter der Kurve verlor.

Lucio lief hinter dem Esel her und ermunterte ihn mit Schnalzen und Rufen wenn er zu langsam wurde. In der rechten Hand trug er vorsichtig sein Sträußchen Margariten, mit den Blüten nach unten damit sie nicht knickten. Er zügelte seine Lust zu rennen und hüpfen, aus Angst, die Blumen könnten darunter leiden. Der Weg ging steil bergauf, langsam verloren sich die bunten Quinuafelder, das satte Grün wurde blasser, die Vegetation spärlicher. Aufmerksam schaute sich der Junge um. Ein paar zusätzliche Blüten täten seinen spärlichen Geburtstagsstrauss gut. Da entdeckte er an einem Steilhang AndenEnzian. Blau leuchtete er zwischen dem Geröll. Brrrrr, Lucio hielt den Esel an. „Warte hier Sisko, ich komme gleich“. Vorsichtig setzte er Fuß um Fuß in das steile Gelände bis er so nah war, dass er die Pflanze glaubte greifen zu können. Er reckte sich nach vorne, wechselte die Margariten von der rechten in die linke Hand und streckte die freie weit vor. Aber es fehlten gut 10 Zentimenter. Er lehnte sich noch ein Stück vor, vorsichtig. Aber da rutschte er mit dem rechten Fuß ab und kam ins Straucheln. Der linke Arm ruderte, um das Gleichgewicht zu halten, die Margariten wankten im Wind und einen Moment lang sah es aus als würde der Siebenjährige einen Tanz aufführen. Weil er die Blumen nicht loslassen wollte konnte er sich links am Hang nicht abstützen und rutschte ein paar Meter nach unten bis er sich mit der rechten Hand an einem windschiefen Baum halten konnte. Er hörte sein Herz schlagen.  „Wie die Maschinen in der Mine: toc-toc—-toc-toc“ dachte er. Er wartete bis es langsamer wurde, schaute aufwärts zur Fundstelle, knabberte nachdenklich an seiner Unterlippe und setzte dann ganz langsam den linken Fuß weiter oben an. Die Blumen wanderten nun in die rechte Hand und so konnte er sich mit der linken am Hang festkrallen. Ganz langsam und vorsichtig hatte er sich dem Enzian genähert, setzte seine Füße mit Bedacht so, dass sie guten Halt boten, wechselte abermals die Margariten in die linke Hand und griff mit der rechten, diesmal von unterhalb, die Stengel der Blumen, um sie sachte zu pflücken. Jetzt galt es nur noch unbeschadet den Weg wieder zu erreichen. Ganz langsam und vorsichtig kraxelte er hoch, mit der einen Hand nach Halt suchend, mit der anderen sein Sträußchen sorgsam in die Höhe haltend. Schließlich hatte er wieder festen Boden unter den Füßen, klopfte sich den Dreck von der Hose und ordnete den Strauss nach Farben, immer abwechselnd gelb und blau. Strahlend betrachtete er sein Werk. „Ein wirklich schöner Geburtstagsstrauß, die ganze Mühe wert,“ dachte er zufrieden und setzte seinen Weg, den Esel vor sich hintreibend, fort.

Inzwischen stand die Sonne hoch, es musste Mittag sein. So kalt die Nächte im August waren, so heiß waren die Tage. Der Junge beschloss hinter der nächsten Biegung, dort, wo ein kleiner Bach verlief, ein Pause zu machen. Nicht zu lang, denn der Esel hatte schwer zu tragen. Lucio hätte die Lasten zwar abladen aber nicht wieder aufladen können. Also machte er den Esel an einem Fels fest und sprang hinunter zum Bach, um sich zu erfrischen und dem Esel in einer Kalabasse Wasser zu holen. Die Blumen hatte er  in den Schatten des Fels gelegt, damit sie nicht in der Sonne verdörrten. Er wusch sich Hände und Gesicht, liess Wasser über den Kopf laufen und schrubbelte die Haare bevor er seine Mütze wieder aufsetzte. Dann aß er seine Kartoffeln und den Käse, warf Kiesel in den Bach und baute kleine Türme aus weißen Steinen. Anschließend füllte er die Kalabasse mit frischem Wasser und balancierte sie vorsichtig zurück ohne einen Tropfen zu verlieren.

„Hier Sisko, trink“ ermunterte er den Esel und setzte die Schale zu Boden. Da sah er ein blaues Blütenblatt am Boden und erstarrte vor Schreck. Noch bevor er sich dem Geburtstagsstrauss hinter dem Fels zuwandte ahnte er, was geschehen war. Sisko hatte die Blumen für ein Festtagsmahl gehalten, übrig waren nur die Stengel. Entsetzt starrte Lucio auf die Überbleibsel. Tränen schoßen ihm in die Augen und rannen wie zwei Bäche die roten Wangen hinunter. Carajo, burro que burro eres „was für ein verdammter Esel bist du“  schluchzte er während er die Stiele zusammenpackte, so, als ob es noch einen Strauß gäbe. Er hielt ihn fest in der rechten Hand und trieb den Esel wieder vor sich her.

Als er am Nachmittag sein Dorf erreichte stand die Sonne schon tief. Die Mutter bereitete die Suppe zu, die kleine Schwester puhlte Bohnen und die große wärmte ihre Hände am Kochfeuer. Sie hatte den ganzen Tag Wäsche im eiskalten Wasser des Flusses gewaschen. Lucio lud die Kartoffelsäcke ab, gab dem Esel Futter und kam dann in die Stube. Da stand er mitten im Raum, die rechte Hand schlaff herab hängend, mit den grünen Stielen. „Mamita feliz cumpleanos“ sagte er und wußte nicht recht ob er ihr erzählen sollte was passiert war. Die Mutter schaute kurz auf. Ihr Blick fiel auf die Stiele. „Was hast du denn da“, lachte sie. Lucio schaute auf den traurigen Rest seiner Bemühungen und konnte die Tränen der Enttäuschung nicht zurück halten. „Es waren so schöne Blumen“ weinte er. „Ay hijito, weine doch nicht“. Es sind immer noch diese schönen Blumen, die du gepflückt hast, nur zeigen sie ihr Gesicht nicht.“ Sie nahm ihm die Stiele ab, suchte in den Trinkgläsern das schönste heraus und wollte es mit Wasser aus der Regentonne füllen. Dann hielt sie kurz inne, griff statt dessen zur Trinkflasche, füllte das Glas und ordnete die Stiele sorgsam an, ganz so als handele es sich um einen wertvollen Blumenstrauß.

1983 auf über 5000 müM Pata Mina/ Vilovo. Lucio hat damals mit mir seinen Geburtsort besucht, von dem nur noch die Grundmauern stehen. Hier oben, auf 5000 MüM hat er mir diese Geschichte aus seiner Kindheit erzählt. QDEP
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Veröffentlicht von Gitti Müller

Gitti Müller ist Buchautorin und Filmemacherin aus Köln. Für ihre Reportagen erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. Sie selbst bezeichnet sich als Globetrotterin und Storytellerin aus Leidenschaft. http://de.wikipedia.org/wiki/Gitti_Müller www.gitti-mueller.de

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