Interview mit Georg Lolos
Georg Lolos ist Bewusstseinstrainer, Achtsamkeitslehrer und Autor in Köln. Er verbrachte mehrere Jahre in der Gemeinschaft von Nonnen und Mönchen in Plum Village (Frankreich), dem berühmten Kloster von Thich Nhat Hanh. Sein Wissen über Achtsamkeit gibt er in seiner täglichen Arbeit sowie in Workshops und Seminaren weiter. Er hat ein Buch geschrieben von dem Christine Westermann sagt, es sei »das erste Buch in Sachen Achtsamkeit, das bei mir nachhaltig etwas verändert hat.« Dazu unten mehr.
Gitti Müller: Georg, bist Achtsamkeitstrainer. Wie kann Achtsamkeit helfen, dass wir unserer Gefühle gewahr werden und warum ist das hilfreich?
Georg Lolos: Also für mich ist es das Wichtigste, was du tun kannst. Wir kümmern uns um alles Mögliche, aber in der Regel nicht um unseren inneren Zustand, in dem wir uns gerade befinden. Von ihm hängt es aber ab, wie ich in der Welt bin, wie ich auf mich schaue, wie ich auf andere schauen und wie ich mich verhalte. Wenn ich mich nicht darin trainiere, wahrzunehmen, in welchem inneren Zustand ich mich befinde und wie ich ein bisschen Abstand dazu bekomme indem ich eine liebevolle Beobachterposition annehme, dann kann ich mich nicht darum kümmern, was da ist. Das geschieht beispielsweise indem ich sage: ‚Ah, interessant, Georg, du sorgst dich gerade. Ah, interessant, du ärgerst dich. Ah, interessant, du drehst gerade durch….‘
Es geht darum, in der Meditation präzise und völlig wertfrei zu schauen, was da ist. So wie ein Bauer in die Scheune geht, ein Sack mit Kartoffeln öffnet und sieht: Aha, da ist ein Sack mit Kartoffeln. Also präzise wahrzunehmen, was da ist, was in dir vor sich geht.
Gitti Müller: Also ganz neutral und sachlich, ohne das zu be- oder verurteilen?
Georg Lolos: Genau. Ganz am Anfang sage ich den Leuten: mach es liebevoll, schau mit liebevollen Blick. Aber generell geht es darum, dass du wirklich neutral beobachtest. Ich kann dir eine kleine Geschichte aus dem Kloster erzählen. Ich war 3 Jahre lang im Kloster und in diesen drei Jahren fiel irgendeine Fußballweltmeisterschaft. Wir haben im Kloster natürlich kein Fernsehen gehabt und keine Zeitungen, nichts, auch kein Internet. Wir sind also zu unserem Lehrer gegangen, Thich Nhat Hanh, und haben gefragt ob wir das Endspiel gucken dürfen. Er hat zugestimmt. Wir haben in der Meditations Halle eine große Leinwand aufgebaut mit einem Beamer und die Nonnen aus den benachbarten Klöstern kamen rüber und wir saßen da und warteten auf das Spiel. Und plötzlich geht die Tür auf und Thich kommt rein und stellt sich vor die Leinwand und sagt „Can you watch the game with the non diskrimination of mind?“ Also: kannst du das Spiel schauen, ohne für oder gegen jemanden zu sein? Und das ist letztendlich die Haltung, die es braucht. Kann ich aus einer neutralen Perspektive wahrnehmen, was gerade ist, also aus einer reinen Beobachterposition?
Gitte Müller: Aber ist das nicht gerade bei so starken Gefühlen besonders schwer, eine Beobachterhaltung einzunehmen?
Georg Lolos: Ja, genau, deswegen ist es ein Training. Man muss Achtsamkeit wirklich als Training verstehen am Anfang. Man muss begreifen, wie Bewusstsein funktioniert. Bewusstsein funktioniert ja so, dass deine Aufmerksamkeit sich an irgendeinen Gedanken, an irgendeine Perspektive heftet. Und weil sie sich daran heftet, geht es dir so, wie es dir geht. Wenn sie sich nicht an den Gedanken, an die Perspektive heften würde, hättest du kein Problem. Aufmerksamkeit ist eine große Kraft. Da wo sie hingeht, entsteht deine Realität. Also du kannst zu mir kommen, nach Hause, kannst hinten auf den Bambus schauen oder auf den Dreck in den Ecken. Da wo deine Aufmerksamkeit hingeht, da entsteht deine Realität.
Das Training besteht darin, wahrzunehmen, womit hat sich meine Aufmerksamkeit verbunden? Wenn z.B. ein Gedanke reinkommt wie ‚Ich bin nicht gut genug‘ oder ein Gedanke kommt rein, der sagt, irgendwas ganz Schlimmes wird passieren und meine Aufmerksamkeit verbindet sich mit diesem Gedanken, dann wird es mir natürlich auf eine bestimmte Art und Weise gehen. So, und jetzt ist der erste Schritt einfach wahrzunehmen: Interessant, meine Aufmerksamkeit hat sich mit diesem Gedanken verbunden. Dadurch bekomme ich schon den Abstand hin und hab die Möglichkeit durch diesen Abstand mehr Raum und zunehmend Freiheit zu bekommen. Und darum geht es am Ende. Mich interessiert nichts anderes als Freiheit. Also wie kann ich mich selber in Freiheit bringen? Wie kann ich andere in Freiheit bringen?
Gitti Müller: Das heißt, je nachdem wo die Aufmerksamkeit hingeht, macht das etwas mit mir. Wenn ich mich jetzt mit meinen Ängsten beschäftige, könnte man ja schlussfolgern, dass ich dann noch mehr Angst bekomme, weil mein Fokus auf diesen Ängsten liegt. Das kann ja auch zu Abwehrhaltungen führen. Ich habe viele Leute angesprochen wegen meines Blogs The Art of Angst, ob sie etwas zu ihren Ängsten sagen möchten. Und da bin ich oft einer Abwehrhaltung begegnet, als ob man, wenn man über Angst reden würde, als ob sie dadurch schlimmer würde. Als ob das eine Krankheit sei, die irgendwie ansteckend ist.
Georg Lolos: Ja, das ist eben das Problem mit Ängsten. Wir schauen nicht genau hin. Ganz oft stelle ich die Frage: Angst wovor? Und meine Frage ist dann: was ist das Schlimmste, was passieren könnte? Wir reagieren in der Regel auf Angst wie mit einem Wegducken. Also Angst kommt und wir wollen nur weg. Eigentlich müssten wir genau das Gegenteil tun. Wir müssen sagen Okay, lass uns doch mal hinschauen. Angst? Wovor? Und was ist das Schlimmste, was passieren kann? Und wenn ich mich dem innerlich stelle und wirklich mal hingucken, stelle ich fest, dass das ganz schnell verpufft. Dass da gar nichts dahinter ist. Es ist nur eine Fantasie, die der Verstand kreiert. Das ist so ein Nebel von uiiiii, etwas ganz Schlimmes könnte passieren. Ja, was denn? Was könnte passieren? Ja, ich könnte dann….. Arbeitslos werden. Und dann. Geh weiter! Und dann werde ich arbeitslos und dann könnte ich vielleicht meine Miete nicht mehr zahlen. Ja, und dann, wenn du deine Miete nicht mehr zahlen könntest? Ja, dann müsste ich Sozialhilfe, Hartz IV beantragen. Ja und dann, wenn du Hartz IV beantragt hast? Ich bring die Leute dann dazu, weiter zu gehen, bis sie wirklich ganz unten angekommen sind mit der Wahrheit. Und dann zu sagen okay, naja, okay, ist nicht schön aber dann wäre es halt so. Am Ende eben das zu akzeptieren, was dann sein könnte. So, das ist die eine Methode.
Die andere Methode wäre zu sagen ‚Ich erlaube meiner Aufmerksamkeit gar nicht, in die Zukunft zu gehen, weil Angst in der Regel immer eine Zukunftsprojektion ist. Und ich erlaube meine Aufmerksamkeit nicht, in die Zukunft zu gehen, sondern ich bleibe hier.‘ Du kannst dich von zwei Seiten der Sache nähern.
Entweder du sagst Okay, ich gehe wirklich hin und schau mir diese Angst an oder du sagst Nein, ich gehe nicht hin, es interessiert mich nicht, über die Zukunft nachzudenken.
Gitti Müller: Also das wäre dann im Moment bleiben und gucken,wie äußert sich dieses Gefühl Angst gerade bei mir? Wo vielleicht im Körper? Was macht es mit mir?
Georg Lolos: Oft sagen mir die Leute ‚Ich glaube, ich habe gar keinen Gedanken, ich hab nur diese Emotion‘. Aber es muss ein Gedanke da sein. Es muss eine Perspektive da sein, sonst wäre die Angst nicht da.
Beispiel: Ein Mann läuft die Straße entlang und sieht eine Schlange und bekommt Angst und erstarrt. Du hast eine bestimmte Reaktion, du hast eine bestimmte Perspektive. Da ist eine Schlange. Du fantasierst eine Projektion in die Zukunft. Du fantasierst, dass was passieren könnte. Die Schlange könnte mich beißen. Du erstarrst. Panik taucht auf. Das ist wie ein Dominoeffekt. So, und jetzt sieht der Mann aber plötzlich, dass es gar keine Schlange ist, es ist ein Seil. Und Buff! Ist alles weg. Weil die Perspektive sich geändert hat, ist plötzlich das gesamte Konstrukt von Angst verschwunden. Es muss also eine Perspektive da sein, damit ich überhaupt eine Angst in mir entstehen lassen kann.
Deswegen ist die erste Frage immer: Angst wovor? Was ist das Schlimmste, was passieren kann? So, wenn du das relativ gut benennen kannst und sagen kannst ‚Ich habe totale Angst, dass das und das passiert…morgen oder übermorgen oder nächstes Jahr‘… dann würde ich sagen: ‚Ich kann in fünf Minuten umkippen und einem Herzinfarkt erliegen. Weißt du, es gibt keine Garantie. Bleib im Hier und Jetzt.‘
Und das ist dann das Training. Wenn ich feststellen würde, dass du deine Aufmerksamkeit nicht loslassen kannst dann würde ich den nächsten Schritt gehen und sagen Okay, lass uns hinschauen. Was ist das Schlimmste, was passieren könnte. Und mal sehen, ob es wirklich so schlimm ist, wie du es dir ausmalst.
Gitti Müller: Es ist also keine Option, Angst zu haben und die zu leugnen oder zu verdrängen?
Georg Lolos: Nein, es ist wichtig, dass ich die Angst sehe. Aber ich kann entscheiden, mich ihr nicht zuzuwenden, ich kann entscheiden, nicht in die Zukunft zu schweifen. Ich steige nicht in die Geschichte ein. Ich setze mich nicht in diesen Film. Ich sage, ich weiß, der Film tut mir nicht gut, deswegen setze ich mich da nicht rein. Ich weiß aber, dass der Film existiert.
Gitti Müller: Okay, was gibt es denn für ganz konkrete und praktische Übungen z.B. für Menschen, die in so eine Angstspirale reinkommen.Welche Möglichkeiten gibt es, diese Spirale zu unterbrechen und sich wieder zurückzuholen.
Georg Lolos: Das Wichtigste ist, die Aufmerksamkeit zu trainieren. Du nutzt den Körper, um die Aufmerksamkeit zu fokussieren, präzise auf den Atem zu lenken. Und ich sag immer: folge der gesamten Strecke des Atems, dann hangelst du dich regelrecht an deiner Atmung in das Hier und Jetzt.
Du kannst alle Sinnesorgane nutzen, um die Aufmerksamkeit ins Hier und Jetzt zu holen. Wie gesagt, Aufmerksamkeit ist deine große Kraft. Da, wo sie hingeht, entsteht Realität. Wenn ich der Aufmerksamkeit erlaube, in die Zukunft zu gehen, kann es sehr schnell passieren, dass ich Angst bekomme.
Gitti Müller: Für Ungeübte kann das sehr schwierig sein, wenn sie gerade in einer akuten starken Angstphase sind, so eine Übung überhaupt durchzuführen. Deswegen macht es Sinn, das eigentlich schon prophylaktisch zu üben, einfach damit man quasi gestärkt ist, wenn es zu so eine Situation kommt, oder?
Georg Lolos: Absolut. Also mein Achtsamkeits-Lehrer hat immer zu uns gesagt: ‚übe, auch wenn es dir gut geht‘. Das ist ein bisschen wie Zähne putzen. Ich fange nicht erst an, mir die Zähne zu putzen, wenn ich Zahnschmerzen habe, sondern du machst das täglich. Genau so geht es mit den Achtsamkeitsübungen. Du übst auch wenn es dir gut geht und schaffst so ein Fundament. Jede Meditation bedeutet dir nichts anderes als ‚Ich trainiere mich darin, meine Aufmerksamkeit zu lenken und zu leiten, egal wohin‘. Es gibt Meditation mit Licht, Meditation zur Dankbarkeit, Meditation der Stille. Und in der Achtsamkeit trainierst du die Aufmerksamkeit immer ins Hier und Jetzt zu holen und aus dieser liebevollen, weiten, neutralen Position zu schauen. Also wenn du das beginnst zu trainieren, wenn es dir gut geht, dann schaffst du das Fundament. Dann können die Stürme kommen, du bist bereit.
Gitti Müller: Schöner Schlußsatz. Vielen Dank für das Gespräch.
In Lolos Buch „Du bist nicht, was du denkst“ entwirft er ein Modell des Ego’s, das einem Haus mit zehn Räumen entspricht. Unten befindet sich zum Beispiel der Minderwert-Keller, in ihm sehnen wir uns nach Liebe und Zuspruch. Im Kontroll-Raum dagegen begegnen wir uns selbst und anderen voller Misstrauen und Perfektionismus. Lolos geht unser inneres Ego-Zuhause Stockwerk für Stockwerk durch und zeigt präzise, welche negativen Gefühle oder falschen Glaubenssätze uns lähmen. Zugleich weist er mit leicht erlernbaren Achtsamkeitsritualen zu Vergebung, Selbstliebe und dem inneren Kind den Weg heraus aus dem Ego-Gefängnis. So können wir das Leben endlich willkommen heißen: liebevoll, gelassen und voller Vertrauen.

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